1813-2013 – eine bewusste Verdrängung

1813 - eine Jahreszahl, mit der heute nur noch wenige Geschichtsinteressierte etwas anfangen können. Die deutsche Katastrophe von 1945 und die nachfol­genden Jahrzehnte der deutschen Teilung, aber auch die Jahre seit der Wiedervereinigung von 1990, haben die preußisch-deutsche Geschichte vom Großen Kurfürsten bis zum Ende der Monarchie 1918 in weite Ferne gerückt oder sie einseitig stigmatisiert.

Selbst die Zeit der preußischen Reformen zwischen 1807 und 1813 sowie der Erhebung gegen die napoleonische Fremdherrschaft von 1813 bis 1815 wird sehr zwiespältig betrachtet und interpretiert. Bestenfalls gesteht man den preußischen Reformern noch zu, daß sie zwar den Bürger aktiv und verantwortlich am Staatsleben beteiligen wollten, wirft ihnen aber vor, daß es ihnen nicht gelungen sei, libera­len und demokratischen Ideen in Deutschland zum Durchbruch verholfen zu haben und die Armee in die bür­gerliche Gesellschaft zu integrieren.

Dabei ist gerade in den Jahren von 1792 bis 1815 das poli­tische deutsche Nationalbewußtsein entstanden. Die Reformen jener Zeit sind aus dem Anstoß durch die Französische Revolution und die anschließende Konfrontation mit ihr und der Hegemonie des napoleoni­schen Kaiserreiches hervorgegangen. Unter den demütigen­den Bedingungen der Fremdherrschaft entwickelten publi­zistische Wortführer wie Ernst Moritz Arndt, Heinrich von Kleist, Friedrich Daniel Schleiermacher oder Johann Gottlieb Fichte eine zwar manchmal militante, aber desto volkstümlichere Agitation zur Befreiung der deutschen Landen. Und die großen gesellschaftlichen Reformer jener Tage – Stein, Hardenberg, Wilhelm von Humboldt, Scharn­horst, Gneisenau, Clausewitz, Boyen oder Grolman – entwickelten unter dem Eindruck des napoleonischen Hegemonialanspruchs und der Katastrophe von Jena und Auerstedt   jene Gedanken und Vorschläge, die Staat und Gesellschaft grundlegend erneuerten.

Gleichzeitig wurde das Weltbild der Reformer von der Vorstellung eines Kosmos gleichberechtigter Staaten und Völker in Europa bestimmt, in deren Rahmen sich Patriotismus und staatsbürgerliche Gesinnung entfalten konnten. Gerade den europäischen Bezugsrahmen des Denken und Handelns der Reformer von Stein bis Scharnhorst hat man eigentlich immer übersehen. Beson­ders Scharnhorst hat immer gewußt, daß die Überwindung der napoleonischen Herrschaft nur in einer großen Koalition der europäischen Mächte realisierbar war. Die damit zusam­menhängende Neuordnung Deutschlands und Europas konnte demzufolge nicht bloß ein deutsches Interesse, son­dern mußte ein gesamteuropäisches sein.

Preußens Unabhängigkeit und Selbständigkeit sollten sich in das System eines deutschen Staatenbundes und des europäi­schen Gleichgewichtes einfügen, die man als friedenssi­chernde Ordnung ansah. Das idealistisch-romantische Staatsdenken der Deutschen dieser Zeit war noch weit ent­fernt von den späteren nationalistischen und chauvinisti­schen Auswüchsen am Ende des 19. Jahrhunderts.

Hier erwiesen sich die preußischen Reformen jener Jahre als die maßvolle Mitte. Die Erneuerung der preußischen Armee sollte gemeinsam mit dem Monarchen und dem Adel als Synthese von bewährtem Alten und notwendigem Neuen durchgeführt werden. Der Soldat sollte in den Staat und die bürgerliche Gesellschaft eingebunden werden. Scharnhorst wollte das Heer modernisieren und auf die Kräfte der Nation gründen, den Militärgeist stärken und die Nation ein­binden. Das mußte die Nation mobilisieren und die Armee konstitutionalisieren. Begriffe wie Staat, Vaterland, Nation wurden zu einem starken Bindeglied zwischen den unter­schiedlichen Teilen der Bevölkerung.

1813 bewährten sich die Ergebnisse der Reformen in den Feldzügen der verbündeten Preußen, Russen, Österreicher, Schweden und Engländer gegen die napoleonischen Unterdrücker. Militärische Institutionen wie Freiwillige Jäger, Landwehr und Landsturm in Preußen manifestierten den erfolgreichen Weg der preußischen Reformer. Vor nun­mehr 200 Jahren prägte Wilhelm von Humboldt in seiner Verfassungsdenkschrift vom Dezember 1813 die eindrücklichen – und gegenwärtig wohl wieder sehr aktuellen – Worte:

„Deutschland muß frei und stark sein ..., weil nur eine nach außen hin starke Nation den Geist in sich bewahrt, aus dem auch alle Segnungen im Inneren strömen; es muß frei und stark sein, um das notwendige Selbstgefühl zu nähren, seiner Nationalentwicklung ungestört nachzugehen und die wohltätige Stelle, die es in der Mitte der europäischen Nationen für dieselben einnimmt, behaupten zu können.“

Ein weiterer positiver Aspekt jener Jahre ist die mit dem „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ vom 11. März 1812 erfolgte rechtliche Gleichstellung der Juden in Preußen, die nun Inländer und preußische Staatsbürger wurden. Damit wurden die in Preußen lebenden Juden nicht mehr als Fremde angesehen und unterschieden sich staatsrechtlich nicht mehr von den übrigen Untertanen. Hinsichtlich der Militärdienstpflicht wurden Juden und Christen gleichgestellt. Die Zulassung der Juden zum Offizierkorps, zur Justiz und zur öffentlichen Verwaltung beschränkte sich allerdings noch auf Einzelfälle und blieb einer späteren Gesetzgebung vorbehalten.

Besonders der 1810 zum preußischen Staatskanzler ernannte Freiherr Karl August von Hardenberg hatte die Emanzipationsgesetzgebung vorangetrieben. Die Emanzipation der Juden war Bestandteil des preußischen Reformwerkes.

Obwohl das Edikt hinter dem Prinzip „gleiche Rechte bei gleichen Pflichten“ zurückgeblieben war, wurde es von den Juden mit großer Begeisterung aufgenommen. Schreiben wurden z.B. von den Gemeinden in Berlin, Königsberg und Potsdam an Hardenberg und den König gerichtet, in denen für das Geschenk des Vaterlandes tiefste Dankbarkeit bekundet wurde.Um ihre Haltung zum Vaterland zu beweisen, nahmen darauf Juden als Freiwillige am Befreiungskrieg gegen Napoleon teil. Mehrere Hundert jüdische Freiwillige aus Preußen (man spricht von 730) nahmen 1813/14 am antinapoleonischen Befreiungskampf teil. Umfangreich war auch die Unterstützung des Freiheitskampfes durch z. T. bedeutende Geldspenden. Allein in der Schlacht von Waterloo sollen 55 Juden gefallen sein. Für besondere Tapferkeit erhielten dort sieben Juden das Eiserne Kreuz, insgesamt 72 im Befreiungskrieg 1813/14.

Etliche jüdische Soldaten bewiesen hohe Einsatzbereitschaft. So zeichnete sich der Bataillonstambour David Salomon vom 1. Bataillon des 10. Schlesischen Landwehr-Regiments in der Schlacht von Leipzig derart aus, das ihn sein Brigadechef Prinz August von Preußen „vorzugsweise beloben“ ließ und ihm sowohl das Eiserne Kreuz als auch der russische Georgs-Orden verliehen wurde.

Auch drei Neffen Rahel Levins (verh. dann Rahel Varnhagen von Ense) kämpften im preußischen Heer. Der älteste wurde dabei schwer verwundet und von ihr gepflegt.

Am 4. Januar 1815 schrieb Staatskanzler Hardenberg unter dem Eindruck der Befreiungskriegsjahre: „Die jungen Männer jüdischen Glaubens sind die Waffengefährten ihrer christlichen Mitbürger gewesen und wir haben auch unter ihnen Beispiele des wahren Heldenmutes und der rühmlichsten Verachtung der Kriegsgefahren aufzuweisen, sowie die übrigen jüdischen Einwohner, namentlich auch die Frauen, in Aufopferung jeder Art den Christen sich angeschlossen.“

Und im sechsten Flugblatt der „Weißen Rose“ vom Februar 1943 hieß es im direkten Bezug zu 1813:

… „Studentinnen! Studenten! Auf uns sieht das deutsche Volk! Von uns erwartet es, wie 1813 die Brechung des Napoleonischen, so 1943 die Brechung des nationalsozialistischen Terrors aus der Macht des Geistes. Beresina und Stalingrad flammen im Osten auf, die Toten von Stalingrad beschwören uns! Frisch auf mein Volk, die Flammenzeichen rauchen!’Unser Volk steht im Aufbruch gegen die Verknechtung Europas durch den Nationalsozialismus, im neuen gläubigen Durchbruch von Freiheit und Ehre.“

Auch die Patrioten des 20. Juli 1944 haben sich immer wieder auf 1813 berufen, so Claus Schenk von Stauffenberg, der ein Urenkel Neidhardt von Gneisenau war. Und Peter Graf Yorck von Wartenburgs Ururgoßvater schloß 1812/13 die berühmte Konvention von Tauroggen, die den Ausgangspunkt für den Befreiungskampf 1813 bildete. Nur die politische Führung der Bundesrepublik negiert dieses Datum, nur ein Schelm fragt sich, warum?!

 
Dr. Frank Bauer